WEN ODER WAS JAGT THOMAS HAUSER?


Dr. Margit Im Schlaa

 


Thomas Hausers Fotos konzentrieren sich auf ein einziges Motiv. Sie zeigen in etlichen Abwandlungen den genitalen Bereich einer als postmoderne Lolita gekleideten jungen Frau, der in immer neuen, ausgeklügelten Inszenierungen dargestellt ist. Diese Fotos von niedlich bedruckten Mädchenslips und Nylon-bestrumpften Beinen sind oft mit pornografischen Bildern verglichen worden. Im Rahmen der Ausstellung „When love turns to poison“ im Kunstraum Kreuzberg, die im letzten Jahr einige Arbeiten von Hauser zeigte, sind die Fotos von konservativen Politikern, der Boulevard-Presse und besorgten Kinderschützern sogar als Herausforderungen pädophiler Gewaltfantasien und männlichen Voyeurismus’ gebrandmarkt worden.
Doch erschöpft sich das vermeintlich eindeutig bedeutende Motiv des weiblichen Geschlechts tatsächlich in einer verurteilenden Lesart pornografischer Darstellungen von Minderjährigen? D.h. müssen sie als Ausdruck einer Überschreitung moralischer Grenzen und strafrechtlicher Gesetze interpretiert werden, der eine moralisierende und gewalttätige Reaktion regelrecht provoziert? Oder sind Hausers Fotos umgekehrt als aufklärerische Arbeiten zu bezeichnen, welche die liberale Position innerhalb der Pornografie-Debatten vertreten, um pornografische Darstellungen in künstlerischer ‚Verpackung’ einer breiteren Öffentlichkeit präsentieren zu können?

Ich halte beide Auffassungen für verfehlt, weil sie den künstlerischen Aspekt der Fotos ausklammern. Ich schlage daher statt einer rein politischen eine kunstkritische Lesart vor, die sich auf die spezifische Ästhetik und die strukturelle Anlage der „Fotografien“ konzentriert. Was ihre Ästhetik anbelangt, lassen sich Hausers Fotos zunächst als Fortführung einer langen künstlerischen Tradition verstehen. Ein Vergleich mit berühmten Vorgängern wie z.B. mit Claude Manets ‚Olympia’ oder mit Gustave Courbets ‚L’origine du monde’ zeigt, dass es auch diesen Künstlern nie vordergründig um die Darstellung eines provokanten, „frivolen“ Motivs ging. Vielmehr thematisieren ihre jeweiligen künstlerischen Inszenierungen ganz ähnlich wie Hausers Fotoserie die Möglichkeiten und Grenzen der Sichtbarkeit, die mit der Freigabe des Blicks auf das weibliche Geschlecht gegeben sind.
Diesen wahrnehmungsästhetischen Zugang zu Hausers Arbeiten möchte ich im Hinblick auf die feministische Forschung zu pornografischen bildnerischen Darstellungen verdeutlichen. Linda Hentschel hat in ihrem Buch „Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne“  darauf hingewiesen, dass Kunst seit dem 15. Jahrhundert quasi pornografischer ist als jede moderne oder zeitgenössische Repräsentation eines pornografischen Motivs. Und zwar deshalb, weil die Kunst seit dieser Zeit aufgrund künstlerischer Darstellungstechniken mehr zu sehen gibt als letztere.  In diesem Zusammenhang hebt Hentschel die Bedeutung zentralperspektivisch konstruierter Räume hervor, die durch den Effekt illusionistischer Tiefenperspektive das Verlangen nach maximaler Sichtbarkeit erfüllen. Die Zentralperspektive gebe einen idealen Raum zu sehen, der nichts zurückhalte und alles zeige. Ganz anders dagegen pornografische Bilder. Antje Peukert zufolge machen sie sozusagen ante portas Halt, weil sie nicht den Ort weiblicher Lust selbst zeigen, sondern nur ein visuelles Vordringen bis kurz vor diesen Ort ermöglichen. Das Nicht-Erreichen des eigentlichen Zieles bewirkt, dass pornografische Darstellungen im Status eines ewigen Versprechens verharren, was wiederum die Sucht bzw. das anhaltende Begehren der vorwiegend männlichen Konsumenten nach immer neuen pornografischen Publikationen und Bildern erklärt.

Ein solches Begehren stellt sich auch bei dem Betrachter von Hausers „Fotografien“ ein, wird hier jedoch durch verschiedene künstlerischen Strategien strukturiert. Zum einen durch die Darstellung des Motivs: das weibliche Geschlecht ist fast nie nackt zu sehen, sondern durch ein oder mehrere Kleidungsstücke bedeckt. Dabei markieren die Mädchenslips mit ihren lustigen Kindermotiven oder ihren weißen, aseptisch aussehenden Schrittverstärkungen Sichtbarrieren, die den Blick auf den eigentlichen Ort weiblicher Lust gleich doppelt verstellen. Nicht nur sieht man das angestrebte Objekt der Begierde nicht, der Blick wird durch weitere, wenig aufreizend wirkende Details noch zusätzlich irritiert. Krusselige Strümpfe, ein zerknüllter Unterrock, der unter einem glatten Oberschenkel hervorkragt, eine mit Hundebabys bedruckte Unterhose oder abgetretene Schuhe aus dem Secondhandladen wirken wie Fehler oder Störfaktoren in ansonsten perfekt Lolita-mäßig durchgestylten Ambientes. Was als Darstellung vermeintlicher Unschuld in lasziven Mädchen-Outfits daherkommt, ist das Ergebnis wohl durchdachter Inszenierungen, deren visuelle Störfaktoren eine ungetrübte Lolita-Optik, eine rein erotische Wahrnehmung der Bilder, bewusst brechen.

Diese visuellen Störmomente irritieren die Wahrnehmung sowohl des Einzelbildes wie auch der Foto-Serie, was durch eine weitere künstlerische Strategie Hausers noch verstärkt wird: nämlich durch das strukturelle Moment der modifizierten Wiederkehr des immergleichen Motivs, die das Phänomen der unerfüllten Schau-Lust des Betrachters auf die Spitze treibt. Dabei suggeriert die Anordnung der Fotos zunächst einen erzählerischen Verlauf der Serie, der eine dramaturgische Entwicklung zu versprechen scheint. Hauser hat seine Fotografien in zwei Reihen so angeordnet, dass je zwei Fotos mit einem schmalen Zwischenraum direkt übereinander hängen und der Serie das Aussehen einer Filmrolle verleihen. Der Betrachter sieht sich zunächst auf eine wie ein Fernsehkrimi anmutende Fährte gelockt, denn von Foto zu Foto verändern sich die Posen, die Kleidungsstücke, die Lichtverhältnisse und Ausschnitte. Doch da weder das Gesicht des Modells in den Fotos zu sehen ist noch etwas anderes als ein und dasselbe Motiv in ständig abgewandelter Inszenierung, lässt sich kein erzählerischer Zusammenhang zwischen den einzelnen Fotos herstellen. Dieser Kontrast zwischen der formalen Anordnung der Fotos als filmisch anmutender Serie und der inhaltlichen Konzentration auf die individualistische Darstellung von Einzelbildern, die das immer gleiche Motiv in unterschiedlichsten Spielarten abwandeln, wiederholt sich in der Rahmung der Serie durch Fotos eines schwarzen Höschens. Wie eine Art Leitmotiv hängt es als Großaufnahme im Eingangsbereich der Ausstellung und bildet in zwei kleineren Aufnahmen Beginn und Ende der Serie. Auch diese Rahmung dient nicht der Inszenierung eines dramaturgisch-erzählerischen Verlaufs der Serie, sondern überführt sie vielmehr in einen Kreislauf, da die Serie endet, womit sie beginnt. Der dadurch entstehende Eindruck eines Loops repräsentiert auf der strukturellen Ebene der seriellen Anordnung der Fotos dasselbe wahrnehmungsästhetische Phänomen wie die variantenreich modifizierten Darstellungen des weiblichen Geschlechts, nämlich das Nicht-Erreichen des eigentlichen Ziels, die mehrfache Enttäuschung der pornotopischen Schau-Lust. Doch gerade dieses Phänomen macht das eigentlich Interessante der Foto-Serie aus, denn es provoziert im Betrachter einen Zustand der Dauerspannung. Mit dem Abschreiten der Serie von Foto zu Foto steigt die Hoffnung auf Erfüllung der Schau-Lust und wiederholt sich deren Enttäuschung, eine Art Reiz-Reaktions-Schema, das auch die aggressive Reaktion, das Aufbegehren einiger Betrachter von Hausers Fotos begründen mag.

Die anhaltende Spannung, die durch das Nicht-Erfüllen eines erotisch-visuellen Begehrens erzeugt wird, erinnert an die TV-Serie „Twin Peaks“ von David Lynch, die in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeiten mit Hausers Foto-Serie aufweist. Ganz ähnlich wie das schwarze Spitzenhöschen in seiner Serie beginnt die TV-Reihe mit einem in kriminalistischer Hinsicht vielversprechendem Auftakt – dem Entdecken der Leiche eines schönen siebzehnjährigen Schulmädchens mit Doppelleben in der abgelegenen Kleinstadt Twin Peaks im Norden der USA, unweit der kanadischen Grenze. „Wer tötete Laura Palmer?“ gibt somit das Thema der Serie vor, das sich jedoch gleich nach der ersten Folge wieder aufzulösen scheint. Anstatt mittels eines narrativen, roten Fadens durch eine Geschichte geführt zu werden, die sich am Haupthandlungsstrang – der Suche nach Lauras Mörder - entlang entwickelt und schließlich zu dessen Auffindung führt, wird der Zuschauer in 29 Folgen mit bis zu 20 verschiedenen Hand-lungssträngen, unzusammenhängenden Szenen, schrulligen und skurrilen Charakteren und deren nicht zu definierenden Rollen sowie merkwürdigen Details bombardiert, die ohne jedes System verknüpft und für die Entwicklung des Haupthandlungsstranges keinerlei Sinn zu ma-chen scheinen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Kommissar findet unter dem Fingernagel der Leiche ein winzig kleines, zusammengefaltetes Stück Papier, auf das mit Schreibmaschine der Buchstabe „J“ geschrieben ist. Dieser Buchstabe taucht in den späteren Folgen immer wieder in unterschiedlichen Zusammenhängen auf, ohne sich als heiße Spur zu entpuppen, die zur Aufklärung des Falles führen würde. Zu solchen absurden Details gesellen sich surreale Ereignisse und andere wundersame Sequenzen. Zum Beispiel mutiert Donna Hayward, die schüchterne Freundin von Laura Palmer, zu einem männermordenden Vamp oder der imagi-näre Vergewaltiger des Mädchens, Bobby, der sie in ihren nächtlichen Träumen heimsucht, entpuppt sich als ihr Vater, der sie in einer Episode ganz real missbraucht. „Diese Szenen enthalten sadistische, erotische oder surreale Elemente, die direkt an die perverse Neugier des Zuschauers appellieren, ohne sie jemals zu befriedigen.“ Auch dieses Phänomen hat die TV-Serie mit Hausers Foto-Serie gemein. „Das Publikum ist wehrlos einem Labyrinth der Reize ausgeliefert, das vom Wesentlichen fortführt und in erschöpfenden Sackgassen endet.“  Die zahlreichen Kaskaden der hoch ästhetisierten, erschreckend-wunderlichen Erzählstränge machen deutlich, dass der Mord an Laura Palmer nur Anlass für David Lynch und seinen Drehbuchautor Mark Frost gewesen ist, um das Bild einer bürgerlichen Kleinstadtidylle zu entwerfen, hinter deren Fassade eine verlogene Moral und ein verklemmt-gestörter Umgang mit sexuellen Phantasien lauert. Doch bei aller Verdrehtheit der Dramaturgie und der detailverliebten, effektheischenden Inszenierung der TV-Serie, die ihre Rezeption durchaus anstrengend gestalten, gibt es doch genügend strukturelle Elemente, welche die Aufmerksamkeit des Betrachters fesseln und seine Spannung über alle Episoden aufrechterhalten. „Wenn [im bläulich eingefärbten Vorspann, MiS] Badalamentis fantastisches Musikthema ‚Falling’ anschwillt und dazu das Sägewerk oder die Landschaft rund um das kleine Städtchen Twin Peaks gezeigt werden, reicht dies, um den Zuschauer bereits gefangen zu nehmen.“ Und die „... einzigartige sinnliche Bildsprache voll zu dekodierender Zeichen, die rein visuell eine atemberaubende Wirkung hat,“  sowie die unvorhersehbare Erzählführung sorgen für eine Atmosphäre des Unheimlichen und einen anhaltenden Suspense, den auch der Betrachter von Hausers Fotoserie erlebt. Und da die Erfahrung seiner Serie wie auch deren Deutung nie an ein Ende kommt, schien es sinnvoll, eine Rede über seine Arbeiten nicht am letzten Tag der Ausstellung zu halten. Denn die Frage, wen oder was Thomas Hauser jagt, kann wohl nicht abschließend beantwortet werden.

 

Vortrag gehalten am 1. Dezember 2005, anlässlich der Ausstellung „Thomas Hauser - Fotografien“ in der Galerie Laura Mars Grp., Berlin.

 

© Margit Im Schlaa

 

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