THOMAS HAUSER: MEMORIES


Herbert M. Hurka



Ein paar Autos stehen am Bordstein, dahinter schließen sich ein trostloses Parkareal sowie ein einfallsloser Verwaltungstrakt an – das Gegenteil jeden Spektakels. Schon abenteuerlicher sind die Nachtstücke. Fensterstreben vor giftigem Licht hinter einem toten Vorhang oder ein gefrorener Baum, dessen Astwerk sich scheinwerferbeleuchtet ans Fenster heranschlängelt, an der Grenze zum Belebten, eine Molluske aus kalten Lichteffekten. Außenaufnahmen, denen gemeinsam ist, dass sie vom Fotografen nicht arrangiert werden können. Und doch wirken sie inszeniert. Genau das ist das Kennzeichen von Thomas Hausers Fotografien. Gleich ob es sich um Spontanbilder, so genannte Schnappschüsse, Portraits oder sonstige Studioaufnahmen handelt: die Ergebnisse sehen aus, als kämen sie direkt vom Filmset: akribisch arrangiert, durchorganisiert, inszeniert.

Um solcher Eigenschaften willen, werden Hausers Fotografien nicht von ungefähr immer wieder mit Film in Verbindung gebracht. Dabei ist es für einen Fotografen ein Risiko, sich auf das Filmische einzulassen. Nach wie vor gilt die Fotografie eher als ein Gebrauchsmedium für Public Relations, den Informationsbetrieb oder für Privatbedürfnisse – von vornherein dem Film unterlegen. Ein Film besteht aus Tausenden von Einzelbildern. Entsprechend wird das Foto als Input-Medium des Films missverstanden und abgewertet. Während ihrer Karriere haben Film und Fotografie dieselbe Geschichte durchlaufen – allerdings mit entgegen gesetztem  Ausgang. Gleich zu Beginn, nämlich der Jahrhundertwende 1800/1900, gabelt sich die Entwicklungslinie des Films in einerseits den Spielfilm, andererseits den Dokumentarfilm. Auf der einen Seite Realismus, der anderen Synthese, Mitschnitt der Wirklichkeit gegen theatralische Inszenierung. Diese Opposition personalisiert sich in den Gebrüdern Lumière und Georges Meliès. Während die Lumières den Dokumentarfilm entwickeln, erfindet Meliès das mis en scène, die Keimzelle des Spielfilms. In-Szene-gesetzt, hergerichtet, komponiert. Dies wurde zweifellos die populärere Schiene, während es sich bei der Fotografie gerade umgekehrt verhält. Von ihren zwei Entwicklungslinien, der Dokumentar- und der Kunstfotografie, setzt sich der Gebrauchswert durch. Via Zeitung wurde die Fotografie zum Nachrichtenmedium; addiert man das dokumentarische Potential der Privatfotos, dürfte dies die Inszenierungen der artifiziellen Werbefotografie zahlenmäßig weit übersteigen.

Mit seiner ganzen Auffassung und seiner Ästhetik bewegt sich Hausers fotografisches Werk in der Spur des Spielfilms. Doch erzählen diese Bilder keine Geschichten, bilden keine Handlungen ab, haben also nichts von dem vorzuweisen, womit der Film Bewegung und Dramatik erzeugt. Die Bilder leben von ihrer Dichte. Ohne sich des filmischen Luxus’ einer zeitlichen Dimension, einer Sukzession und Entwicklung bedienen zu können, ist die Fotografie darauf zurück geworfen, die motivischen Konnotationen auf einer unbeweglichen Bildfläche zu fixieren, an einem Ort, an dem die Zeit sich auf einen Punkt zusammenzieht. Ein Mangel, aus dem Hauser Gewinn zieht. Seine Fotos fangen die Aura des Filmischen ein, das, was von einem Film im Gedächtnis haften bleibt, jene besondere Art von Eindruck, den Filmszenen hinterlassen. Der isolierte Extrakt eines Films, das Bildgefühl. Der Regisseur, dem Hausers Bilder am nächsten kommen, ist sicherlich David Lynch. Und ähnlich wie in Lynchs verschärften Filmen wie Lost Highway, Twin Peaks, Mulholland-Drive, bei denen man selbst mit höchster Aufmerksamkeit zu keiner logischen Auflösung kommt, kann man auch in die Bilder von Hauser eintauchen, sich von ihnen mitnehmen lassen, ohne bis zum Grund ihrer rätselhaften Oszillation vorzudringen.

Durch ihre subkutane Dramatik zeigen diese Fotos immer mehr als das, was ihre optischen Oberflächen preisgeben. Mehr als eine Straßenszene, mehr als ein Portrait, mehr als einen Alltagsgegenstand. Die Motive entfalten einen Überschuss, der das Bild an einen Punkt treibt, an dem es in etwas anderes umkippt. Der glänzende Stahlboden eines Bügeleisens im bekannten Braun-Stromliniendesign ist aus einem so ausgeklügelten Winkel aufgenommen, dass  ein aggressives Signal überspringt, und die harmlos glänzende Bügelfläche in eine geschliffene Pfeilspitze morpht.
Was die Gegenstände derart dynamisiert, lässt sich vor allem auf den Aufnahmewinkel zurückführen. Aus einer Perspektive von schräg oben vermittelt sich eine Draufsicht auf die Dinge als scheinbare Verfügung des Blicks über den Gegenstand, während sich gleichzeitig ein Eindruck aufdrängt, als wüchsen die Objekte dem Blick entgegen. Dabei entwickeln die Objekte eine Autonomie, die ihnen zugleich etwas von dem zurückerstattet, was sie für sich sind, und durch ihre Gemachtheit und Verfügbarkeit verloren haben. Ein Überschuss, der sich an jedem einzelnen Bild demonstrieren ließe, und in jeweils unterschiedliche Assoziationsfelder ausstrahlt. Ins Erotische, ins Sexuelle mit seinen tabuisierten Zonen bis ins Tödliche.

Während den Einzelbildern das Rätselhafte eincodiert, implizit ist, funktionieren die Doppelmotive explizit nach der Struktur von Rätseln. Erst der zweite Blick korrigiert den Anschein, dass es sich um identische Bilder handelt. Zwei Bilder, zwei Blicke. Die Bilder unterscheiden sich durch mehr oder weniger große Abweichungen und fordern das Auge zum Vergleichen auf. Wie viele Unterschiede gibt es? Doch man  nähert sich der Lösung des Rätsels keinen Schritt, wenn man die Unterschiede gefunden hat. Rätselähnlich sind auch Spiele wie Memory, bei dem jedes Bild zweimal und verdeckt auf dem Tisch liegt. An dieses Spiel dockt der Titel an, den der Künstler der Ausstellung gibt: „Memorie“. Die von der Norm abweichende Rechtschreibung wiederholt sprachlich die Abweichungen zwischen den doppelten Fotos. Der Titel „Memorie“ assoziiert das Feld, in dem die Fotografie sich als Medium verortet. Als Aufzeichnungsmedium dient die Fotografie zur Erweiterung des Gedächtnisses. Mnemosyne, memoria, memoire, memory: die Fähigkeit zur Erinnerung, die, sobald sie von ihrer Dynamik getrennt wird, zum Archiv erstarrt. Fotos bilden ein unendliches Archiv von Bildern als globale Gedächtnisstütze der Menschheit. Genau diese archivarische Sicherheit der Fotografie infizieren die Doppelbilder mit dem Virus der Konfusion. Sie sind unverlässlich, ebenso unverlässlich wie die Erinnerung selbst, über die uns Hirnforscher mitteilen, sie seien pure Konstruktionen.  

Solche Irritationen ziehen unser Informationsbedürfnis generell in Mitleidenschaft.
So wenig Spielfilme Nachrichtenfilme sind, so wenig reflektieren Hausers Fotos auf Umweltinformation. Statt dem dokumentarischen Blick des Reporters folgt Hausers Kamera dem Blick des Regisseurs. Entsprechend aufgeladen sind die Bilder. Ästhetik statt Information. Das heißt, es kommt in erster Linie auf das Zusammenspiel der Bildelemente und den psychologischen Reiz an. Dem Auge bietet sich ein Arrangement von auf der Bildfläche verteilten Attraktoren. Da Hauser professionell die Klaviatur der Werbefotografie beherrscht, bestimmen weniger von der Malerei abgeleitete Kompositionsprinzipien die ästhetische Binnenstruktur der Bildfläche als eine ausbalancierte Distribution von Blickfängen. Zu sehen etwa an der Straßenszene mit dem silbernen Cabrio, wo sich das Rot des Rücklichts mit den Rots eines Halteverbotschilds, einer Parkbanklehne und zweier Türrahmen zu einem internen Farbkomplex vernetzt. Mit dieser Balance setzt sich Hauser von der Strategien der Werbefotografie ab, wo die Bildelemente in der Regel einem dominanten Blickfang untergeordnet sind. Blickfänge – im Jargon auch eye-catchers genannt – sind aggressiv, befinden sich ständig in der Schlacht um die Aufmerksamkeit der Konsumenten. Springen uns an von Plakatwänden, Journalseiten, Fahrzeugen, Kleidern – mit dem Ziel,  unsere Wahrnehmungsfilter zu überrumpeln und direkt ins Hirn zu powern. In der Werbefotografie wird das fotografische Material so bearbeitet, dass sein fotogener Mehrwert abgeschöpft werden kann. Neben dem Überrumpelungseffekt soll das Motiv dem Auge entgegen kommen, schmeicheln. Fotogenität ist hier ein Resultat der Postproduktion.

Jedes neue Medium bereichert die Welt um Realitäten, die es bis dahin nicht gab. Das Lesen von gedruckten Büchern schafft eine neue Art von inneren Bildern, aus Buchstaben gewachsene Vorstellungswelten. Der Film erzeugt eine diskontinuierliche Raum- und Zeitstruktur und die Fotografie das Phänomen der Fotogenität. Hierbei handelt es sich um einen ästhetischen Zuschuss, den allein die Symbiose von Blick und Kameraobjektiv hervorbringen kann. Hauser sieht von vornherein, was an Menschen und Gegenständen fotogen ist. Aus diesem Grund kann er sich mit einer vergleichsweise konservativen Analogkamera begnügen und deshalb kann er auch darauf verzichten, die Bilder digital nachzubearbeiten.

Seine Szenen, Objekte und Situationen erscheinen buchstäblich in einem neuen Licht und geben dem Blick auf die Welt einen anderen Drive. Es zeigt sich, dass Fotogenität das Inszenatorische ist, das keinem anderen Medium und keiner anderen Kunstform als der Fotografie zukommt. Das führt nur scheinbar zum Anfang dieser Überlegungen zurück, weil Fotogenität auf eine völlig andere Art von Inszenierung hinausläuft, als sie der Bühne oder dem Filmset gemäß ist. Licht, Zeichnung, Schatten betonen die graphische Qualität der Arrangements, während die Farbe ein unberechenbares Surplus einbringt. Die Farbe taucht die Fotos immer in eine unterschwellig künstliche Atmosphäre, weil zumindest die momentane Technik es nicht vermag, die Naturfarben eins zu eins zu reproduzieren. Auf den Punkt gebracht: Wenn es eine künstlerische Botschaft in Hausers Arbeiten gibt, könnte die lauten: Alles ist fotogen, man muss es nur sehen.

Einführungsrede zur Ausstellung: „Thomas Hauser - Memorie“, Galerie Foth, Freiburg;
gehalten am 3. Februar 2007.


© Herbert M. Hurka

 

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